Als Oswald von Wolkenstein am 4. Juni 1432 im Auftrag von Kaiser Sigismund auf dem Basler Konzil ankommt, ist er mit seinen 55 Jahren als Politiker bereits „elder statesman“. Auch sein gewaltiges Œuvre hat er zu diesem Zeitpunkt grösstenteils verfasst und gerade seine zweite Sammlung in Auftrag gegeben: Diese prächtige, heute als „Innsbrucker Codex“ bezeichnete Handschrift, enthält nahezu Oswalds gesamtes Werk und wird von dem so berühmten Portrait eröffnet, das man in fast jeder modernen Veröffentlichung zu Wolkenstein antrifft. Als er sich Mitte der 1430er Jahre endgültig in Südtirol niederlässt, hat er auch seine grossen Reisen bereits hinter sich, hat die Welt gesehen, sich an Einflüssen aus aller Herren Länder bedient und die Erfahrungen reichlich in seine Lieder einfliessen lassen: In diesen offenbart er sich zugleich als weltmännisch und äusserst individuell.
Obwohl Oswald in den letzten Jahrzehnten immer bekannter geworden ist, wurde ein Grossteil der insgesamt gut 100 Kompositionen seines Œuvres bislang selten oder nie zu Gehör gebracht. Ensemble Leones stellt sich den Herausforderungen dieses wenig behandelten Repertoires und nähert sich mit neuen Ansätzen den einstimmigen Liedern Oswalds, sowie seinen oft missverstandenen „organalen“ Stücken. Diese zweistimmigen Lieder wurden von ihm vermutlich selbst komponiert und es scheint mit diesen Stücken durch Oswald ein musikalischer Stil überliefert worden zu sein, der einer rein mündlichen Kultur entstammt und normalerweise nicht verschriftlicht wurde.
Ensemble Leones lässt mit dem vorliegenden Programm Stücke erklingen, zu denen der Schlüssel bisher verborgen lag – neben ungehörten, einstimmigen Liedern auch die wunderbaren Kanons „Gar wunnichleich“, „Nu rue mit sorgen“ und „Mit günstlichem herzen“ und das hoquetische „Herz, prich“, sowie einige bekanntere Erzählgedichte, die in frischer Interpretation neuen Sinn ergeben. Dieses Programm zeigt eine sehr persönliche Seite in Oswalds musikalischem Werk, das seine ureigenen Fassungen enthält. Ein Programm mit Instrumenten aus Oswalds Zeit: Laute, Vielle, Drehleier, Harfe und Horn begleiten den Gesang teils ein-, teils mehrstimmig und erwecken sein Werk eindrücklich zu neuem Leben.