Beim Gedanken an mittelalterliche Mönche und deren Musik kommt als erstes der Gregorianische Choral in den Sinn – der feierliche, rituelle Gesang, der den liturgischen Alltag der Mönche begleitete, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Ein näherer Blick auf geistliche Handschriften des 9. bis 12. Jahrhunderts aber zeigt, dass viele Mönche und Geistliche auch andere Lieder sangen, bisweilen mit Texten, die alles andere als christlich waren. Die Kloster- und Kathedralschulen des mittelalterlichen Europa waren Zentren der Gelehrsamkeit und Brennpunkte des intellektuellen Lebens. Alle Mönche und Kleriker waren zunächst Muttersprachler einer europäischen Volkssprache (mit deren jeweiliger heidnischer Wurzel) und mussten zweisprachig werden, mussten lernen, auf Latein zu sprechen, zu denken, vielleicht sogar zu lesen und zu schreiben – in der Sprache ihres Glaubens, der Liturgie, der Wissenschaften, der Philosophie und der Literatur. Diese entscheidende Verbindung mit dem Lateinischen konnte am besten durch das Studium erhaltener, „antiker“ Texte gefördert werden: Texte römischer Autoren, Dichter, Dramatiker, Lehrer, Philosophen und Historiker, deren Werke gelesen, auswendig gelernt und in vielen Fällen auch gesungen wurden. Zu vereinzelten germanisch-heidnischen Dichtungen traten daher die Lieder von den alten Göttern (Odin, Zeus, Jupiter, Bacchus), von Männern und Helden (Herkules, Orpheus, Boethius, Caesar) und von mächtigen Frauenfiguren und Göttinnen (Walküren, Fortuna, Philosophia, Kleopatra, Dido, Venus, die wilden Kikonen). Die Überlieferung dieser Lieder, auch wenn sie oft nur fragmentarisch ist, gewährt uns einen reichen Schatz europäischer Sangeskunst und ist Zeuge einer vor Leben nur so sprühenden Kultur, in der christliche Mönche ihren heidnischen Vorfahren eine Stimme verliehen, um deren Geschichte und deren Vorstellungen weiterzureichen, so dass sie bis heute nachhallen.
Benjamin Bagby
Übersetzung: Marc Lewon
Der REMA Early Music Award 2016 (Réseau Européen de Musique Ancienne), ein Netzwerk für Alte Musik, wurde am 17. März 2017 an Benjamin Bagby im Anschluss an das FAMB-Konzerts in der Predigerkirche verliehen.
Wir gratulieren herzlich zu dieser Auszeichnung! (zum Video)