Seit der Reorganisation der Chapelle Royale durch Louis XIV. sang man jeden Morgen in der Messe drei Motetten, eine grosse, eine kleine, dazu ein „Domine, Salvum fac“. Während sich der König und sein Hofstaat an der musikalischen Kunst ergötzten, wurde die normale Messe mit leiser Stimme in der Nachbarkapelle gebetet, wie P. Perrin 1665 berichtet. In diesem paraliturgischen Kontext entstanden zahllose Motetten, auch Jean-Philipp Rameau schuf drei solcher Grands motets auf lateinische Texte in luxuriöser Besetzung für Soli, Chor und Orchester, darunter die eindrückliche Vertonung des 125. Psalms (nach Luther: Ps. 126), eines Wallfahrtliedes, in dem Israel auf seine Rückkehr aus dem Exil zurückblickt. Seine Vertonung entstand noch vor der Pariser Zeit, vermutlich um 1711. Aufschlussreich für die noch junge Gefühlsästhetik ist eine Aussage Rameaus zur Verbindung von Komposition und Gefühl: In einem Brief (1727) schrieb er, dass man mit diesen Motetten erkennen könne, ob er das, was er ausdrücken möchte, auch empfinde. Viel später, nach genial bzw. skandalös empfundenen Opern überarbeitete er „In Convertendo“ noch einmal und führte sie in den ConcertSpirituel in Paris 1751 auf. In dieser Konzertreihe im „Schweizersaal“ des Palais des Tuileries erklang ab 1725 vorwiegend lateinische musique de chapelle, daneben auch Instrumentalmusik. Durch diesen neuen Musikort wurde das Zentrum des musikalischen Interesses mehr und mehr vom Hof in die Stadt hineingetragen.
Auch der Autodidakt Georg Philipp Telemann, dem, wie er selbst schreibt, die Natur „die Feder in die Hand gegeben hatte“, war von der Form der Grands motets, wie überhaupt vom französischen goût äusserst angezogen und so nützte er seinen Besuch in Paris (1737–38) dazu, um seine Vertonung des 71. Psalms im Concert-Spirituel zu präsentieren. Ob er dann auch noch sein Grand concert, das französische Elemente mit dem italienischen Concertostil verbindet, mit im Gepäck hatte, entzieht sich unserer Kenntnis; doch die Türen für den geschickten und arbeitsamen Hamburger Unternehmer standen bereits weit offen, seine Motette „Deus, in judicium tuum“ wurde „fort goûté“, wie der Mercure de France berichtete, während Rameaus Motette anscheinend beim Publikum durchfiel: Sie sei aus reinem Ehrgeiz geschrieben worden, und die Aufnahme sei „ganz und gar betrüblich“ gewesen (Correspondences littéraires 1751); sein Jugendwerk sei „schlecht und seiner nicht würdig“, doch könne dies ihm weder Schaden zufügen, noch an seinem Ruhm kratzen (Ch. Collé 1751).