Die Geburt eines neuen Star-Ensembles
Nach über dreißig Jahren anhaltendem Erfolg mit Mala Punica, einem Ensemble, das spätmittelalterliche Repertoires und Aufführungsweisen grundlegend revolutioniert hat, unternahm Pedro Memelsdorff kürzlich die Gründung von Arlequin Philosophe, einem spätbarocken/frühklassischen Ensemble, das koloniale Musik der französischen Karibik aufführt.
Dieses vernachlässigte und doch äusserst bedeutsame Repertoire umfasst (wortwörtlich) tausende von kammermusikalischen und symphonischen Konzertprogrammen und Opern sowie höchst ungewöhnliche Arten religiöser Musik, wie sie zwischen ca. 1740 und 1800 auf den Grossen und Kleinen Antillen (einschliesslich Ostkuba, Guadeloupe, Martinique und vor allem Saint-Domingue, dem heutigen Haiti) und in Französisch-Guayana aufgeführt wurden.
Arlequin Philosophe greift wie Mala Punica auf die historische und kulturelle Distanz zurück, um den Geist der Innovation in der Musik aller Zeiten zu erschliessen. Mit seinen weltweit gefeierten Künstlern wurde Arlequins Programme bereits auf drei Kontinenten bestellt.
Programm 1 (2022-23): Karibisches Concert Spirituel in Saint-Domingue
Programm 2 (2024-25): Kourou: Musik, Traum und Wirklichkeit in Französisch Guyana
Programm 3 (2025-26): No island is an island und die Salle Villeneuve: ein karibisches Phantomtheater
Programm 4 (2023-25): Minette, Karibische Galathée (neu geschaffene Oper)
Der Name Arlequin Philosophe verweist auf die ernsten Inhalte, die sich im 18. Jahrhundert – wie je – hinter den leichten, zum grossen Teil komischen Repertoires zu verbergen wussten. Insbesondere: durch die koloniale Kontextualisierung erlebten viele europäische Komödien ein zweites, dramatisches Zweitleben, denn Standart-Themen wie Freiheit, Eiversucht oder inter-klassistische Heirat (z. Beispiel unter Bürgern und Adeligen) wurden im Rahmen des Koloniallebens zu rassistischen Vorurteilen und Regelungen bezogen – die das mischrassigen Publikum genauso stark wie die Künstler-Besetzung auf der Bühne betrafen.
Kurz: durch die theatralische Nutzung der Konzerträumlichkeiten erzählt Arlequin Philosophe 'musikalische Geschichten', die sowohl künstlerisch als auch sozial relevant, und emotional ansprechend sind: das Debüt und die frühe Karriere der ersten mischrassigen Solo-SängerInnen im französischen Musiktheater (Caribbean Concert Spirituel); die faszinierende, wenn auch tragische Geschichte eines erträumten Versailles im Dschungel von Guayana (Kourou); oder die Nostalgie von Inseln, die andere Inseln erträumen – ja, die ferne Kulturen im Geiste lokaler Praktiken umgestalteten (No Island Is an Island). Zu den allerneusten Programmen gehört auch das Repertoire eines von uns rezent entdeckten Theaters in Port-au-Prince aus dem späten 18. Jahrhundert: der Salle Villeneuve.
Arlequins Programme können dem Publikum ermöglichen, sich das Zusammentreffen zwischen europäischen und nicht-europäischen Kulturen vorzustellen: Wissen heutige ZuhörerInnen, zum Beispiel, dass versklavte Menschen afrikanischer Abstammung in den Plantagen Guayanas Gebete auf sonst unbekannter Musik von Marin Marais sangen? Oder dass sie auch Liebeslieder sangen, die verschiedene europäische Sprachen in jedem einzelnen Vers vermischen?
Neben der faszinierenden Interaktion unterschiedlicher Kulturen – einschliesslich musikalischer Einflüsse Amerikanischer, Afrikanischer und Europäischer Herkunft – spielen Arlequins Konzertprogramme einige der Vorbilder von sozialen Szenarien an, die keineswegs heutige Gültigkeit verloren haben: Zwangsmigration, Pandemie, Diskriminierung, erzwungene oder freiwillige Integration.
Dieser Thematik stellt Arlequin Philosophe die Pracht prunkvoller Konzerte entgegen: denn durch halbtheatralisierte und äusserst freie Aufführungen bietet das Ensemble virtuoses Spiel und Koloraturgesang, flexible Instrumentierung und feurige Improvisation, die europäische Streicher und Bläser mit gelegentlichen afro-amerikanischen Zupfsaiten oder Schlaginstrumenten kombiniert. Die Grösse der Gruppe beträgt durchschnittlich 23-26 Mitglieder, variiert jedoch je nach Raum und Kontext: Kirchen (Barcelona Santa Maria del Pi, Bolesławiec Cathedral Basilica, Kathedrale von New Orleans), Theater (Venedig ‚Squero‘ di San Giorgio, Breslauer Philharmonie, Utrecht Tivoli-Vredenburg) oder sogar Open-Air Veranstaltungsorte (Potsdam Sans-Souci).
Zu den Mitgliedern von Arlequin Philosophe gehören einige der bekanntesten jungen Talente der europäischen Alte-Musik-Szene, wie die überwältigende Violine von Théotime Langlois de Swarte, die Christalstimmen von Kathrin Hottiger und Markéta Cukrová, oder die hypnotisierende Traversflöte von Johanna Bartz.
Und zu den nächsten Veranstaltungen gehören Florenz (Villa I Tatti, 9. Mai 2024), Utrecht (Schlusskonzert des Early Music Festival, 1. September 2024), Wroclav (Wratislavia Cantans, 6. und 7. September 2024).
Auf dem noch offenen Kalender 2026 stehen beispielsweise Paris (Cité de la Musique) und Bogotá (TBD).